Eine befreundete Ärztin berichtete mir ganz aufgelöst, dass sie nicht wisse, wie sie mit Patienten umgehen solle, die ihre komplette Familie mit in den Behandlungsraum mitnähmen. Ganz verunsichert fragte sie mich, was sie denn tun könne in einem solchen Fall. Für sie als behandelnde Ärztin sei es gewöhnungsbedürftig, wenn sie Untersuchungsergebnisse/Therapien mit vielen Personen gleichzeitig erörtern müsse. Solche Fragen/Aussagen seien vertraulich und gehörten in die Privatsphäre des Patienten. Maximal eine oder zwei zusätzliche Personen des Vertrauens könnten noch hinzugezogen werden. Mehr sei für sie nicht akzeptabel, sei doch Krankheit eine diskrete und vor allem eine höchst persönliche Angelegenheit.

Was ist der Grund dafür, dass der Patient so viele andere Personen mitbringt?

Unterschiedliche Vorstellungen von Familie

In jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer zur eigenen Familie gehört und wer nicht.

Auch was von den einzelnen Familienmitgliedern erwartet wird und wie wichtig Familie überhaupt für den Einzelnen ist, variiert je nach kulturellem Hintergrund. Der Begriff „Familie“ ist je nach Kultur anders zu verstehen. So unterscheidet man die erweiterte Familie und die Kernfamilie. Als erweitert versteht man nicht nur die kleine Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind (und je nachdem auch Oma und Opa), sondern auch Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten. Dies variiert bei jedem Menschen und ist kulturell geprägt.

Individualismus versus Kollektivismus

Der niederländische Forscher G. Hofstede erkennt darin eine Unterscheidung in Personen, die eher kollektivistisch und andere, die eher individualistisch geprägt sind. So stehen in der Kategorie Kollektivismus Netzwerke bzw. die erweiterte Familie im Mittelpunkt der individuellen Entscheidungen. Jeder ist seiner Gruppe bzw. Familie gegenüber verpflichtet, die Familie schützt ihn/sie und übernimmt Verantwortung. Dem gegenüber steht ein individualistisch handelnder Mensch, der nur für sich selbst Verantwortung übernimmt. Netzwerke (erweiterte Familie) haben keinen oder ganz wenig Einfluss auf das Handeln der Person. Wenn, dann spielt nur die Kernfamilie eine Rolle.

Der Umgang mit Krankheit

Die Unterscheidung äußert sich u.a. im Umgang mit Krankheit. In eher kollektivistisch ausgerichteten Kulturen wollen und sollen alle Personen des Netzwerks beteiligt sein. So wundert es nicht, dass besagte Ärztin ihr Zimmer voll hat mit Mitgliedern der erweiterten Familie. Ein stationärer Patient im Krankenhaus würde sicherlich sehr häufig Krankenbesuch bekommen und auch die Anzahl der Besucher wäre beträchtlich. Genauso wundert es nicht, dass man sich dann auch noch um das leibliche Wohl des Familienmitglieds persönlich kümmert und ihm Essen mit ins Krankenhaus bringt, selbst wenn dadurch Diätvorschriften verletzt werden. Dass die Verwandtschaft auch über kritische Zustände des Patienten aufgeklärt werden möchte, rundet das Bild ab.

Ganz anders ein individualistisch geprägter stationärer Patient: Besuch ist bei ihm nicht so häufig, meistens sind es Einzelpersonen. Er allein (oder vielleicht zusammen mit seiner Kernfamilie) entscheidet über die Behandlung, die Verwandtschaft mischt sich nicht ein. Auch wird die Versorgung durch Essen dem Krankenhaus überlassen.

Wenn die oben erwähnte Ärztin um die obige Einstellung der Familie gegenüber weiß, wie könnte sie souverän reagieren, damit auch sie sich in der Situation wohlfühlt? Was würden Sie tun? Ist Ihre Einstellung zu Familie eher kollektivistisch? Oder doch individualistisch?

Testen Sie Ihre persönliche Einstellung zur Familie:

• Überlegen Sie, welche der unten angegebenen Personen Sie zu Ihrer Familie zählen: Mutter, Vater, Kinder, Cousin, Lebenspartner/-in, Oma, Opa, Tante, Bruder, Schwester, Onkel
• Wie häufig treffen/sehen Sie Ihre Verwandten? Zu welchen Anlässen rufen Sie Ihre Verwandte an, mailen oder skypen mit ihnen?
• Von welchen Verwandten können Sie finanzielle Unterstützung erwarten, wenn Sie in Not geraten?
• Wissen Sie, wieviel Ihre Geschwister verdienen?
• Wissen Ihre Eltern, wieviel Sie verdienen?
• Wer wird Sie nach einer Operation im Krankenhaus besuchen?